Gerhard Simchen

* 1945

  • "Wissen Sie, wie glücklich ich bin, dass wir endlich wider den Zustand erreicht haben, den es vor dem Krieg gab? Was die hier und damals dort wollten, kann ich heute noch nachvollziehen. Die Tschechen haben früher mit Deutschen und Sudetendeutschen Hand in Hand, Tür an Tür gewohnt. Miteinander gesprochen, miteinander gefeiert, waren zusammen in Vereinen. Da gab es kein Für und Wider und Gegen oder so etwas, das gab es ganz einfach nicht. Und diesen Zustand haben wir gottseidank heute wieder." 0:54:19 - 0:54:50

  • "Folgendermaßen ist es bei uns erlebt worden, dass vorher schon, weit vorher, vor dem Einmarsch, bei uns die Wälder voll russischer Soldaten waren. Also es waren überall Kemps, Lager. Dann waren auch Verkehrskontrollen, wenn ich nach Lobau musste, aus welchem Grund ja auch immer, die haben mich drei, viermal angehalten. Ausweiskontrolle und alles Mögliche. So. Und dann kam dieser August. Wir waren abends in der Kirchenchorprobe, und nach der Kirchenchorprobe sind die Männer ins Gasthaus, Bier zu trinken (…) bin ich bei uns im Ebersbach bis zum Rathaus gekommen, dort ging die Bahnhofstrasse quer vorbei. Das ist die Straße, die in Richtung Jiříkov durchgeht. Und die war gesperrt, es konnte keiner rüber. Es standen da russische Posten mit Armbinden und Flaggen, und dann ging es los. Dann kamen Artilleriegeschütze, Lafetten und was da alles ist. Und dann kamen die Panzer. Ich konnte sie nicht zählen. Was ich gemerkt habe, diese taktischen Zeichen, die da bei panzern immer die Nummern, die da draufstehen, die waren mit irgendwelchen russischen Tageszeitungen zugeklebt. Und was mich damals ein Bisschen stutzig gemacht hat, auf den Artilleriegeschützen, die da waren, da saß der Richtschutze drauf, was ja sonst bei Transport nie üblich ist, habe ich später erfahren, als ich selbst bei der Armee war. Und das ging stundenlang."

  • "Aber es ist ihnen eine SAche gelungen, weil die ja auch direkt an der Grenze gewohnt haben, in Philippsodorf – Filipov. Es gab dort keine Grenze in dem richtigen Sinne. Und sie haben wahrscheinlich über irgendwelche krummen Kanäle erfahren, dass sie im Balde das Haus verlassen müssen. Und sie hatten damals sich selbstständig gemacht mit einer mechanischen Handstrickerei, Maschinen, haben Baby-Sachen gemacht, alle was als Pullover gestrickt wird. Da ist es ihnen gelungen nachts die Maschinen abzubauen und illegal über die Grenze zu schaffen, nach Sachsen. Von dort ist es ihnen gelungen sie nach Leipzig zu nehmen und haben bis zum Renteeintritt das Geschäft weitergeführt. Da musste man zweimal aufpassen, weil ja damals schon die Grenzpolizei Schleifen lief. Und da haben die immer geguckt, wenn der durch war, haben die päckchenweise das Zeug… Es muss sehr aufwendig gewesen sein.

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    Zittau, 14.02.2024

    (audio)
    duration: 01:03:07
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Vor dem Krieg lebten die Tschechen Hand in Hand mit den Deutschen. Gott sei Dank ist das heute wieder so.

Gerhard Simchen, 2024
Gerhard Simchen, 2024
photo: Post Bellum

Gerhard Simchen wurde am 2. Juli 1945, nur wenige Wochen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in dem Dorf Zschepplin bei Leipzig geboren. Die Wurzeln seines Vaters liegen jedoch in der nordböhmischen Stadt Filipov/Philippsdorf. Sein Vater kam als Sudetendeutscher zur Wehrmacht und durfte aus amerikanischer Gefangenschaft nicht mehr nach Hause zurückkehren. Auch Gerhards Großeltern wurden zwangsweise in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands umgesiedelt. Gerhard wuchs in Ebersdorf auf der deutschen Seite der historischen Grenze zwischen Böhmen und der Lausitz auf, quasi in Sichtweite des Geburtsortes seines Vaters. In seiner Kindheit waren die Deutsche Demokratische Republik und die Tschechoslowakische Sozialistische Republik, zwei vermeintlich befreundete Staaten aus dem „sozialistischen Lager“, durch eine undurchdringliche Grenze mit regelmäßigen Grenzpatrouillen und Stacheldraht getrennt, ganz ähnlich wie der damalige Eiserne Vorhang. Dieser Zustand dauerte bis zum Bau der Berliner Mauer Anfang der 1960er Jahre. Im August 1968 sah Gerhard mit eigenen Augen, wie Panzer der „brüderlichen“ Armeen über die Grenze fuhren, um die Tschechoslowakei zu besetzen. Heute ist Herr Simchen froh, dass die tschechisch-deutsche Grenze nur noch symbolisch ist und dass die Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen wieder so reibungslos sind wie vor dem Krieg. Und dass er wieder frei ist, wann immer er will, in das Land zu reisen, aus dem seine Vorfahren ausgesiedelt wurden. Die Geschichte des Zeitzeugen konnten wir dank der Unterstützung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds aufzeichnen.