Rosemarie Kraus

* 1941

  • Wenn ich ehrlich bin, ich habe zwar hier zwei Häuser, wir hatten einen großen Bauernhof bis mein Sohn krank geworden ist, aber zu Hause fühle ich mich in Tschechien. Meine Kinder sagen immer: „Mama, da bist du ein anderer Mensch.“ Obwohl es in Kulm sehr, sehr weh tut. Also ich kann nicht mehr zu dem Haus hoch, wo ich mal gewohnt habe, weil da muss ich dann zu sehr weinen. Ich fahre höchstens mit dem Auto vorbei zum alten Bahnhof hoch, da ist die Zeit stehen verblieben. Es steht jetzt zwar nicht Kulm dran, sondern Chlumec… Und was mich noch sehr, sehr traurig macht, ist auch Antonín Dvořáks Vaters Grab. Das Grab ist ja nicht so, wie es war vor der Wende, es steht zwar im Prospekt drinnen, dass sich die Stadt Velvary darum kümmert, aber... Wir haben auch das letzte Mal das Unkraut weggemacht. Wenn da ein Grab wäre von der Mutter von Mozart, dann würde man es pflegen und hegen. Aber ich glaube, da kommt niemand hin.

  • Wir Kinder sind ja auch gewachsen. Unsere Füße sind gewachsen. Und wir mussten uns in die engen Schuhe zwängen, verstehen Sie? Und da habe ich schon als Kind, durch dass wir keine Schuhe hatten und drei Jahre dieselben Schuhe anziehen musste, einen ganz verkrüppelten Fuß und habe natürlich jetzt ganz große Schwierigkeiten mit dem Laufen. Mein Vater musste mir dann, als er wieder Schuhe machen konnte, in Bayern, den einen Schuh halt anders formen.

  • Und dann fuhren wir ins Lager nach Schöbritz. Es hat mit dann mein Cousin erzählt, der zehn Jahre älter ist als ich. Wir waren acht Tage dort ohne jegliches Essen und Trinken. Die Oma wäre immer am Zaun entlanggegangen und hätte geschaut, ob jemand etwas über den Zaun schmeißt, aber es konnte niemand etwas über den Zaun schmeißen, denn wie Sie wissen, sie wurden beobachtet. Mein Cousin hat gesagt, die Leute haben Regenwürme aus den Eimern gegessen, so einen Hunger hatten sie. Da kann mich aber persönlich nicht daran erinnern. Ich weiß nur, dass wir in so einem Raum waren und da waren viele Kleidungstücke dort gelegen. Und ich hatte einen Holzengel über meinem Bett hängen, denn wollten sie mir wegnehmen. Ein wunderschöner Engel aus Holz. Und ich sehe den Engel noch auf der Wäsche drauf liegen. Meine Mutter hat dann die Leute gebettelt, sie sollen mir doch meinen Engel wiedergeben und das haben sie auch getan. Und der hängt heute noch über meinem Bett!

  • Wir konnten dann wegen den beiden Kindern von meiner Tante, die in Lerchenfeld eingesperrt war, noch in Kulm bleiben, viele mussten ja schon 1945 fort. Das Grafenehepaar von Westfalen mit ihren Kindern, die mussten sofort weg, sie hatten ein wunderbares Schloss in Kulm, aber mussten sofort übers Gebirge mit dem Handwagen hoch. Die kommen jetzt immer noch nach Kulm, einmal im Jahr. Wir durften noch bleiben, aber mussten dann von der Tante aus zum Lastauto runterlaufen, zur Kirche, das geht bloß so eine Kurve runter, eine „Drehe“ haben wir daheim gesagt. Und da stand bei der Kirche das offene Lastauto, wie sie früher waren, von hinten alles offen. Da haben mich meine Leute hochgehoben, ich hatte einen Rucksack dabei und da hat meine Puppe rausgeschaut. Das Andere mussten wir zu Hause lassen, das ganze Spielzeug. Und ich kann mich gut erinnern, gegenüber der Stelle, da war von meiner Großtante der Bauernhof. Und da waren die Leute unten gestanden, meine Bekannten und weitläufige Verwandten, die noch nicht ausgesiedelt wurden und haben alle geweint. Und eine gute Tschechin, die schon den Bauernhof übernommen hatte, die hat uns eine Flasche Milch hochgehoben.

  • Full recordings
  • 1

    Weidenberg, SRN, 27.05.2019

    (audio)
    duration: 01:19:20
    media recorded in project The Removed Memory
  • 2

    Pegnitz, SRN, 13.07.2020

    (audio)
    duration: 01:13:22
    media recorded in project The Removed Memory
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Als Verwandte von Antonín Dvořák kehre ich nach Böhmen zum Orgelspielen zurück

Rosemarie in ihrer Kindheit vor der Vertreibung aus ihrer Heimat Chlumec
Rosemarie in ihrer Kindheit vor der Vertreibung aus ihrer Heimat Chlumec
photo: archiv Rosemarie Kraus

Rosemarie Kraus, geborene Dvořák, wurde am 12. November 1941 in der Gemeinde Kulm bei Aussig an der Elbe (Chlumec u Ústí nad Labem) geboren. Sie kommt aus einer Musikerfamilie und der Bruder des gefeierten Komponisten Antonín war ihr Urgroßvater František Dvořák, der eine Deutsche heiratete, die nach seinem frühen Tod in ihre Geburtsgegend bei Aussig zurückkehrte. Ihr Großvater, Neffe des Komponisten, František sprach noch tschechisch und leitete das Orchester in Kulm. Ihr Onkel spielte die Orgel. In der Familie sprach man ansonsten deutsch mit Kulmer Dialekt. Ihr Vater Josef diente ab 1943 und kehrte aus dem Krieg nicht mehr zurück, fiel in amerikanische Gefangenschaft und siedelte sich in Bayern an. Die Familie von Frau Rosemarie wurde zunächst im Mai 1945 enteignet und anschließend im August 1947 in die damalige sowjetische Zone von Deutschland ausgewiesen, einschließlich eines achttägigen Aufenthaltes mit Hunger und Durst im Lager im Aussiger Schöbritz. Der Großvater, der die Vertreibung (im Gegensatz zur Enteignung) vermeiden konnte, blieb lieber mit der Familie zusammen. Die Kindheitserinnerungen an diese Ereignisse sind von Bildern an Spielzeug (Puppe, Engelchen) dominiert, die sie aus ihrer Heimat mitnahm, und dann die Spätfolgen in Form deformierter Füße, die wegen zu langem Tragen von zu kleinen Schuhen nicht ordentlich wachsen konnten. Nach mehrmonatigem Aufenthalt in der sowjetischen Zone erzielte ihre Mutter für sich und Rosemarie die Erlaubnis zur Ausreise zum Vater nach Westdeutschland. Die Großeltern konnten erst 1949 nachfolgen. Frau Rosemarie erlernte in Bayern das Orgelspielen bei den Ordensschwestern zum Heiligen Kreuz in Werneck mit Ursprung aus dem Kloster in Eger (Cheb). Nach dem Tod der Mutter setzte sie das Studium an der Hochschule nicht fort, sondern kümmerte sich bis zu seinem Tod 1965 um den Großvater und arbeitete als Steuerberaterin. In den Achtziger Jahren half sie mit in Deutschland die Petition zur Freilassung von Václav Havel aus dem Gefängnis zu verbreiten, initiiert durch die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte. Bis heute spielt sie in Kirchen, seit 1984 besucht und spielt sie auch in tschechischen Kirchen. Den Zustand der dortigen Orgeln bedauert sie. Jährlich nimmt sie an der Wallfahrt im Geburtsort Kulm teil und bemüht sich auch die Erneuerung der Orgel in nahen Mariaschein (Bohusudov) zu unterstützen.