Annemarie Kist

* 1933

  • Aus der Zeit könnte ich Ihnen sagen, dass die Deutschen pflegten ihre Bräuche pflegten. Sie hatten bestimmte Trachten, und an manchen Tagen wurden die eben getragen. Das gefiel, das habe ich mitbekommen, der tschechischen Regierung nicht. Die wollten nicht, dass die Deutschen so sehr zusammen hielten. Ich weiß nur, dass die Deutschen mehr Autonomie wollten damals. Unser Schuldirektor hier, der hieß Burkhardt, der war auch wahrscheinlich bei einer Vereinigung oder Partei, das weiß ich nicht, er sass in Prag in Pankrác im Gefängnis, der war dort eingesperrt. Er kam dann nach 38 wieder hierher."

  • "Also März. Ich ging in Kaaden in die Schule, und da kamen sehr viele Flüchtlinge. Ein Teil der Schule war Lazarett, und ein Teil war noch Schule. Da gab es in März schon viele Fliegerangriffe von den Amerikanern. Da war auch neben mir im Zug einer angeschossen, da habe ich zum ersten Mal gesehen, was alles möglich ist im Krieg. Und da liess mich die Mutter nicht mehr in die Schule fahren. Also ab März 1945 war ich nicht in der Schule. Die Übergangszeit, da weiss ich nicht all zu viel. Wir kamen nicht hier raus und waren immer hier. Und dann kamen in etwa April die Amerikaner. Genaueres Datum kann ich Ihnen nicht sagen. Aber da haben wir zum ersten Mal Amerikaner gesehen. Die kamen in grossen LKWs hier, und da haben wir zum ersten Mala uch Neger gesehen. Was für uns ein Ereignis! Die warfen aus den Autos Kaugummi und Schokolade. Es war streng verboten das zu nehmen, die Propaganda war wahrscheinlich fürchterlich. Schlimmer, heute ist es wieder anders verrückt. Die haben uns gewarnt, dass wir das nicht nehmen sollten, weil es vergiftet ist. Aber wir sind nicht dran gestorben, das war eine Lüge. Vorher habe ich auch schon paar Mal mitgekriegt, dass es nicht stimmt, was sie uns erzählt haben. Hier in der Küche war eine Bank. Es kamen russische Kriegsgefangene, die waren im Steinbruch beschäftigt. Da haben wir gehört, wie schlimm die Russen sind, wie fürchterlich das alles ist usw., und da sassen 3 oder 4, kann ich mich erinnern, es durfte eigentlich auch nicht sein, sowjetische Kriegsgefangene. Das Brot war noch nicht fertig, und sie warteten hier auf das Brot. Da hat mich ein Russe auf Deutsch angesprochen, gefragt, was ich mache und was ich lerne, da hab ich ihnen das erzählt. Und die brachten für uns Kinder auch Spielzeug mit, geschnitzt einfach, wo man das anfassen musste, da waren Hühner drauf, die pickten. Und da habe ich gedacht: Stimmt doch alles gar nicht. Da hab ich immer versucht, mir das im Ganzen vorzustellen. Ich hab immer versucht, die Zusammenhänge zu sehen."

  • "Wir mussten antreten, es gab auch schon Uniformen, einige hatten das schon. Im Reich war es ja schon seit 1933. Davon wussten wir gar nicht. Da war die Grenze dazwischen. Wir hatten aber Verwandten, es war eine Verwandte der Mutter, die nannten wir Tante, ist hier im Ergebirge geboren, Vater von der Tante Hans Neumann, der war Lehrer in der Nähe von Joachimsthal, der hat auch Schulbücher geschrieben. Eins habe ich noch. (Also ihr musstet antreten und Uniformen tragen...) Ja, Versammlungen mit Muss und genau so, wie es bei Hitler eben vorgeschrieben war. Dann habe ich das natürlich nur gefühlsmässig aufgenommen. Da hatten wir Appelle, und es ist üblich gewesen, dass man zur Taufe vom Paten Ohrringe bekommen hat. Da konnte man sich auch nicht dagegen währen. Ich hab dann gefragt, warum hab ich die Ohrringe. Ja, das hat die Hebamme gleich in den ersten vier Wochen miterledigt. Meine Schwester hat sowas nicht, weil es dann schon nicht mehr üblich war. Die Ohrringe, manche hatten dann solche Ohrhänger, die nach unten hing, das wollte ich nicht. Da hat die BDM Führerin gesagt: 'Was habt ihr hier alle, ein deutsches Mädchen trägt keinen Negerflug.' Das habe ich mir gemerkt. Da dachte ich schon, das ist aber was Komisches. Was später war mit dem Ohr, blieb auch im Gedächtnis hängen. Als wir 45 im August ausgewiesen wurden, da wurden wir an der Grenze nochmal durchsucht. Ich hatte noch die Ohrringe drin, und dann kam ein Tscheche und wollte die Ohrringe haben. Ringe usw. das wurde alles weggenommen. Und das ging nicht gut raus, da musste er daran reissen, und da kann ich mich erinnern, das hat weh getan. Und als Kind merkt man sich so bestimmte Sachen. Es gab diese beiden Erinnerungen , also es gab überall solches Zeug."

  • "Zu 1945 kann ich dann Ihnen sagen, dass an einem Vormittag, kam eine, es war also Niemandsland hier, kam eine Abordnung. Vielleicht 10 junge Soldaten, alle jung, in Uniform. Ich weiss noch, die nannte man die Svoboda – Truppen. Und die sagten zu meiner Mutter: in 20 Minuten müsst ihr hier raus sein. Was wir einpacken konnten, haben die bestimmt. Meine Grossmutter hatte nicht eine Wäsche zum Wechseln, nichts. 10 deutsche Reichsmark durften wir mitnehmen, wir hatten nicht mal jeder einen Löffel, das war schon übel. Dann kamen wir auf ein Anhänger, ein LKW, und da wollte mein Vater noch mal aus dem Keller etwas holen, das wurde dann weggeworfen. (Was konntet ihr mitnehmen?) Wir hatten zwei Betten hier, mehr nicht. Ich hatte eingepackt, weil ich schon viel gesehen und gehört hatte, und da habe ich meine Puppe angezogen, drei vier mal Kleider, weil ich gesehen habe, wie man das macht, wenn man flüchten muss. Die Puppe hatten wir nocht eine Weile. Dann kamen wir mit dem offenen LKW nach Kaaden, und in Kaaden... Mein Vater war inzwischen da, der hat nicht gedacht, dass so was passierren kann, und da wurde mein Vater von uns weggenommen. Er war dann auch in Kaaden erst eingesperrt, später war er wohl in Kladno zur Zwangsarbeit. Von dort ist er 46 wahrscheinlich geflohen, und kam heimlich über die Grenze. Wir waren hier in der Nähe, weil meine Grossmutti haben gedacht, das dauert nur 2- 3 Wochen und dann kommen wir wieder nach Hause. Es wusste ja niemand, was passiert. Es war chaotisch, es war weder von der deutschen Seite organisiert. Es war eine üble Zeit."

  • "(Versuchen Sie aus Ihrer Erinnerung dieses Haus zu beschreiben, was hier alles war.) Als ich hier rein kam, wusste ich sofort, wo war die weisse Bank, hier war ein grosser Tisch. Wenn wir gegessen haben, dann waren immer so acht – neun Leute, immer. Die haben hier gearbeitet und alle lebten friedlich miteinender. Ich hatte Glück, dass meine Eltern, wenn ich das so sagen darf, sozial gedacht haben. Waren auch christlich, meine Mutter mehr als mein Vater. (Also gegessen wurde hier. Und wo wurde geschlafen?) Geschlafen wurde oben. Über uns ist das grosse Zimmer, das gehörte meinen Eltern, da stand Ehebett. Da könnte ich alles noch beschreiben. (Bitte, tun Sie das.) Das rote Zimmer wurde 1945 ausgeräumt, weil die Flüchtlinge auch da waren. Vor den Betten stand ein Sofa, ein Wohnzimmer in dem Sinne, wie es jetzt üblich ist, gab es nicht. Da kann ich mich noch erinnern, wo unser Kinderbett war, mit einem Gitter, das kann ich noch ganz genau beschreiben. Ich habe mich jahrelang mit diesen Sachen überhaupt nicht beschäftigt, da hatte man zu tun, dass man am Leben blieb, wenn man jung ist, dass man eine Perspektive hat. (Die Mühle war so, wie sie jetzt aussieht? ) Ja, ich habe gestaunt, was der Herr Gabriel aus so einem Trümmerhaufen gemacht hat."

  • Full recordings
  • 1

    Stráž nad Ohří, 04.07.2021

    (audio)
    duration: 01:37:35
    media recorded in project The Removed Memory
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Die Rückkehr in das Familien-Mühlwerk

Das Mühlwerk in Warta (Stráž nad Ohří), 2021
Das Mühlwerk in Warta (Stráž nad Ohří), 2021
photo: natáčení

Annemarie Kist wurde am 3. April 1933 in einem Mühlwerk in Warta (Stráž nad Ohří) als das älteste von drei Kindern des dortigen Müllers geboren. In Warta ging Annemarie vier Jahre lang auf eine deutsche Volksschule, später pendelte sie mit dem Zug auf das Gymnasium in Kaadan (Kadaň). Der Vater Franz Glaser war knapp zwei Jahre lang im Dienst der Wehrmacht, arbeitete jedoch den Großteil der Kriegszeit im Mühlwerk. Im Jahr 1945 erlebte Annemarie Flüchtlingswellen aus den bombardierten deutschen Städten, auch den Todesmarsch der KZ-Häftlinge und letztendlich auch die sogenannte wilde Vertreibung ihrer eigenen Familie. Sie durften fast nichts mitnehmen, ihr Vater wurde festgenommen und der Rest der Familie wurde in das Lager in Brunnersdorf (Prunéřov) gebracht. Dort verbrachten sie in einer ehemaligen Montagehalle für Flugwettkämpfe einige Wochen, bevor sie in Fuhrwerken an die sächsische Grenze gebracht wurden und von dort aus mit dem Zug nach Chemnitz kamen. Der Vater floh vor der Zwangsarbeit, traf sich mit der Familie zusammen und baute sich Stück für Stück wieder ein Mühlwerk in der DDR auf. Als dieses jedoch im Jahr 1951 verstaatlicht wurde, flüchtete der Vater nach Westdeutschland. Die Mutter blieb zusammen mit den Kindern und der Großmutter in der DDR, die Eltern ließen sich später scheiden. Annemarie wurde Lehrerin, sie machte in Potsdam ein Präsenz- und Fernstudium. Im Jahr 1957 heiratete sie. In die Tschechoslowakei reiste sie oft, vor allem nach Prag zu ihrer Tante. Sie ist froh, dass ihr Familien-Mühlwerk erneuert wird und dass sie das Interview für Paměť národa direkt dort geben durfte.