Rudolf Hüttner

* 1937

  • Wir waren so beschäftigt wir Massengräbern schaufeln, wir mussten wirklich auch die Leichen vors Loch ziehen und wenn irgendeine von den Leichen noch Goldkronen im Gesicht gehabt hat, mussten wir zuschauen, wie ihnen die Tschechen ihnen die Goldkronen rausgeklopft haben. Aber es waren alles Dinge, die wir eben… Ich danke dem Herrngott dass ich das alles überleben konnte. Deswegen sage ich, so schlecht, wie es mir gegangen war, kann es fast nie mehr gehen.

  • Da hat mich der Gutsverwalter mal mitgenommen schlitten, es war ja wahnsinnig viel Schnee, und er hat verschiedene Sachen auf der Gemeinde besorgt. Und vor der Schule hat er das Pferd abgestellt, nebendran war ein Gasthaus und da ist er reingegangen. Und dann war Schulende und dann sind die Kinder aus der Schule rausgeschwärmt wie sonst was, haben irgendwo Steine noch gesammelt, haben die Steine zu einem Schneeball gemacht und mit den Steinen auf mich geworfen. Mich hat man scheinbar erkannt als Deutschen, oder haben sie das gewusst. Aber teils haben sie das Pferd getroffen und das Pferd hat natürlich gescheut, und das hat der Gutsverwalter bemerkt und ist dann raus und hat geschimpft. (Die Kinder) sind dann verschwunden und er hat mich mitgenommen in das Gasthaus und da habe ich damals ein Wiener Würstchen bekommen. Den Geschmack habe ich, wenn ich daran denke, fast heute noch. Das war für mich etwas Besonderes.

  • Wir waren drei Buben, wir mussten Massengräber schaufeln in Bystřice-Lager. Wir haben Hunger gehabt. Wir haben ja bloß zwei Scheiben, fünfzig Gramm Brot am Tag gekriegt, und einen Teller Wassersuppe. Wenn ich heute Spülwasser kriegen würde, hätte ich eine nahrhaftere Suppe gehabt. Wir waren Buben ungefähr im gleichen Alter. Innerhalb des Lagergeländes war so gut wie kein Gras mehr, aber außerhalb haben wir gesehen, dass da Sauerampfer wächst. Es waren vier Wachtürme und wenn Postenwechsel war, haben wir uns die Armel am Stacheldraht angekratzt, um bloß den Sauerampfer außerhalb des Lagergeländes auszureisen und haben es gegessen und eventuell auch dem Rest der Familie gegeben.

  • Ich habe gar nichts eingepackt. Ja, Spielzeug wollte ich mitnehmen. Ich habe damals schon Schuco-Autos gehabt, das war für die damalige Zeit ein Geschenk, dass sich nur reiche Leute leisten konnten. Um 1944 habe ich, weil ich ja schon Ministrant war, als Geschenk ein Hausaltar bekommen, mit allen Zutaten, mit Kelch, mit Wein und Wasser, mit Monstranz. Ich wollte zwar Sachen mitnehmen, aber da haben sie gesagt: „Nichts, nur das Wichtigste zum Anziehen.“ Die Wintersachen, denn es war ja dann kalt. Aber sonst – o ja, die Kamera. Die hat meine große Schwester irgendwo in eine Tasche unten eingenäht. Eine Voigtländer Vito, die existiert noch, bloß geht sie nicht mehr.

  • Wir durften nur 30 kg Gepäck mitnehmen, mussten uns am Ringplatz von Mies (versammeln), dann sind wir auf LKWs geladen worden und zum Bahnhof (gebracht), in Güterwägen ohne Fenster (geladen), 30 Personen mit Gepäck, und den ganzen Tag stehengeblieben bis es dunkel war. Und dann ist der Zug einmal hin und einmal her und keiner wusste, wo geht es jetzt hin, nach Osten oder nach Westen. Es war von außen verschlossen, wir konnten keine Tür aufmachen. Für die Notdurft sind dort eine oder zwei Eimer gewesen.

  • Full recordings
  • 1

    Weidenberg (Bavorsko), 30.05.2019

    (audio)
    duration: 02:17:03
    media recorded in project The Removed Memory
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Als Neunjähriger musste ich Massengräber schaufeln, aber den heutigen Generationen gebe ich dafür keine Schuld

Rudolf Hüttner als ein Kind
Rudolf Hüttner als ein Kind
photo: Pamětník

Rudolf Hüttner wurde am 1. Januar 1937 in einer deutschen Drogeristenfamilie im westböhmischen Mies (Stříbro) geboren. 1938 ersteigerte der Vater das Haus der jüdischen Familie Rosenberg im Stadtzentrum, wohin er sein Geschäft verlegte. Dieses führte aber im Krieg wegen des Kriegseinsatzes des Vaters meist die Mutter, selbst Drogeristin. In seiner Kindheit konnte Rudolf gar kein Tschechisch, lernte erst während der Vertreibung einige Worte. Nach dem Krieg versorgte die Drogerie die amerikanischen Besatzer im benachbarten Bayern mit Fotopapier, im Oktober 1945 musste die Familie Mies aber verlassen und Rudolf sich von vielen Spielsachen verabschieden. Die Familie durchlief nach einander die Sammellager in Wlaschim (Vlašim), Bistritz (Bystřice) und Moderschan (Modřany), verrichtete auch Zwangsarbeit bei tschechischen Bauern, obwohl der Vater noch unter einer schweren Kriegsverletzung litt. Desto fleißiger mussten die Kinder arbeiten. Die schlechtesten Bedingungen herrschten wahrscheinlich im Bistritzer Lager, wo der Hunger den Jungen zu Ausflügen zum Sauerampfer zwang, der an den Rändern des Lagers wuchs, und wo ihn nachts das Geheule von vermutlich gefolterten Mitgefangenen aus dem Schlaf weckte. Der neunjährige Rudolf musste in Bistritz auch Massengräber für die Leichen von Deutschen schaufeln und dabei zusehen, wie die Aufseher ihnen die Goldzähne raushauten. Von der Zwangsarbeit beim Bauern erzählt er davon, wie tschechische Kinder auf ihn als Deutschen Schneebälle mit versteckten Steinen schmissen. Er erinnert sich auch, wie er bei den tschechischen Bauern zur Schule gehen musste, aber nichts lernte, weil er kein Tschechisch konnte. Nach der Vertreibung nach Deutschland im Mai 1946 bekam Rudi im Lager Wiesau das erste ordentliche Essen nach langen Jahren – Kartoffelsuppe. Die Anfänge in Deutschland waren für die Familie mühsam, die Umgebung nahm sie nicht an und sie mussten sich mit selbstgemachtem Weihnachtsschmuck und kleinen Drogerieartikeln durchbringen. Erst nach Jahren gelang es dem Vater in Bamberg erneut eine Drogerie zu eröffnen, die Rudolf 1974 von ihm übernahm und bis 2000 führte. Mit einer aus Polen vertriebenen Frau gründete er eine Familie und den Geburtsort Mies besuchte er wiederholt seit 1986. Er bedauert, dass die heutige Generation der Tschechen die Möglichkeit zur Wiedergutmachung der Folgen der Vertreibung verschenkte, aber er gibt ihr keine Schuld. Mit seiner älteren Schwester half er in den Achtziger und Neunziger Jahren die vergessene Tradition der Marienfeiertage in ihrem Geburtsort wiederzubeleben.