Robert Böhm

* 1932

  • Die Gefahr war natürlich im Winter grösser, auch wegen den Spuren. Ich bin über dreizehn Jahre alt gewesen und bin über die Wälder rübergegangen. Ich habe meine Schleichwege gewusst, Rucksack am Rücken gehabt und habe die nötigsten Sachen über die Grenze gebracht. Mein Vater konnte nicht, wenn sie ihn erwischt hätten, hätten sie ihn eingesperrt. Also bin ich immer alleine marschiert. Es war eine bittere Zeit. Welche Sachen habe Sie in dem Rucksack gebracht? Wäsche, hauptsachlich Wäsche, was man so benötigt im Allgemeinen. Auch ein Fotoalbum, alle möglichen Sachen. Einmal hätten sie uns beide fast erwischt. Da haben wir von dem Maschinenhaus die Lederriemen von Transmissionen, drei Stuck, auf Schlitten geladen. Da hat mir einer geholfen, ein Schlesier, der war zwei Jahre älter wie ich. Und dann ist die tschechische Patrolle gekommen. Wir haben den Schlitten stehen gelassen im Dickicht. Und Stunden später sind wir auf die tschechische Seite zurückgegangen und haben den Schlitten mir Reiberiemen rübergeholt. Es war ein gutes Zubrot für die nächsten Jahre, denn die Riemen waren dick und wir haben sie als Schuhsohlen verhandelt bei den Bauern gegen Speck oder Naturalien.

  • Ich kann mich auch noch erinnern, als die Front näherkam, haben sie ganze Kolonen von KZ-Lager-Häftlingen durchgetrieben in Neuern. Und die Leute haben von uns gebettelt, es war verboten, aber immer wieder gaben ihnen die Leute in Neuern Brot oder irgendetwas zum Essen. Es war grausam. Es wusste auch niemand, dass am Bahnhof auch ein Transport stand und da sind auch Menschen erschossen worden, die nicht mehr konnten oder sehr krank waren. Die deutsche Bevölkerung hat darüber nichts gewusst, vielleicht die Einzelnen. Und am Judenfriedhof in Neuern waren Massengräber und da waren 108 KZ-ler begraben. Die mussten dann die Deutschen, lauter ältere Männer, herausholen. Es war fürchterlich heiß, es war Juni damals. Und abwaschen die Toten. Es waren dort Sarge, mehr solche Kisten, und da kamen sie rein und wurden am Ringplatz unten, wo früher die zweite Kirche stand, aufgebahrt und wurden dann beerdigt. Dass es dort ein Massaker gab, wussten die Menschen in Neuern nicht. Und als die Beerdigung war, mussten die Deutschen die Särge tragen, immer vier Mann, zur Bahre drauf und am neuen Friedhof wurden einzelne Gräber gegraben und da war die Beerdigung. Damit nichts passiert, fuhren da vier amerikanische Panzer mit Maschinengewehren, dass es da kein Aufstand gibt. Wir Jungen waren immer interessiert auf solchen Sachen, mit dreizehn Jahren, und waren auf der Friedhofsmauer. Wir sahen sogar hinten unter, zwei Mann trugen die Bahre da rein und zwei Mann blieben beim Sarg. Und da hinten, da sahen die Amerikaner nicht hin. Da stand tschechisches Pöbel. Und die alten Männer, die die Särge trugen, die bekamen dann noch Schläge.

  • In der Nähe (die Familie), die hatten eine kleine Landwirtschaft, ungefähr 200 m von uns, wo wir wohnten. Der Peschl Sepp, der war eingerückt bei den Gebirgsjägern und eingesetzt am Balkan gegen die Tito-Partisanen. Als er frühzeitig zurückkam aus der Gefangenschaft, stand von den Amerikanern Todesstrafe auf Waffenbesitz. Aber das hat den Sepp nicht gestört, der hat seine Armeepistole immer dabeigehabt, 1946, wenn er über die Grenze ging. Er und sein Schwager halfen damals Leuten von drüben, wenn bekannt wurde, dass die Vertreibung stattfinden wird, Sachen über die Grenze zu bringen, natürlich gegen eine gewisse Entlohnung. Und eines Tages waren sie auch wieder drüben, kamen vollbepackt Richtung Grenze, zwischen Brandvisier und Osser, und da hatten drei tschechische Milizionäre schon gewartet. Und dann ging es los. Geschossen. „Hände hoch!“ Und der Sepp natürlich, der war aufgebrüht, der hat sofort auf seine Armeepistolen gezogen, und dann ist geschossen worden. Einen Milizionär hat er erschossen, den zweiten angeschossen und der dritte hat den Sepp erschossen. Und sein Schwager, der konnte sich durch die Flucht über die Grenze entziehen. Mir hat unlängst eine Nichte von diesem Sepp aus Straubing erzählt am Telefon, dass es funfzig Jahre gedauert hat, bis die Angehörigen einen Totenschein aus Prag bekamen für diesen Vorfall. Ja, solche Sachen haben sich damals abgespielt.

  • Und nachher haben wir, mein Vater und ich, uns wieder zurückbegeben Richtung Rittsteig. Wir haben uns dort einquartiert. Ich war ja dreizehn Jahre alt. Und jede zweite Nacht ging ich von Rittsteig nach Neuern schwarz über die Grenze und brachte rucksackweise die nötigste Gabe, die wir hatten, über die Grenze. So ging es ungefähr vierzehn Tage und dann suchten wir uns ein Quartier in Schmolz, Gemeinde Lamm. Zwei kleine Zimmer, das einzige Mobiliar war ein alter Tisch. Wir zimmerten uns dann selbst Hocker, dass wir eine Sitzgelegenheit hatten. Wir schliefen auf blankem Stroh. Meine Eltern schliefen in Neuern auf Rosshaarmatratzen, das nur nebenbei bemerkt. Es war eine schlechte Zeit. Um Geld zu verdienen, haben wir bei den Sägewerken die Sägegatter gesammelt, wo die Klinken abgebrochen waren. Und in der Hammerschmiede haben wir daraus Messer herausgestanzt, geschliffen und dann selbst aus Kirschholz oder Zwetschkenholz Griffe gemacht. Und die habe ich dann bei Bauern auf Lebensmittel verhandelt.

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    Neukirchen b. hl. Blut, 02.09.2019

    (audio)
    duration: 02:15:36
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Nach dem Krieg überquerte ich wiederholt die Grenze, zur Zeit des Eisernen Vorhangs schütze ich sie als Angehöriger der deutschen Grenzpolizei

Robert Böhm, Neukirchen 2019
Robert Böhm, Neukirchen 2019
photo: Natáčení

Robert Böhm wurde am 26. Februar 1932 in Neuern (Nýrsko) in die Familie des Architekten Robert Böhm geboren, der unter anderem das bis heute stehende Mahnmal für die Opfer des 1. Weltkrieges entwarf. Im Jahr 1937 besuchte Konrad Henlein Neuern, den die Ortsbewohner begrüßten und dem der kleine Robert ein Gedicht vortrug. In die 1. Klasse der tschechischen Grundschule wurde Robert im September 1938 eingeschult und nach einigen Wochen ersetzte das Portrait des tschechoslowakischen Präsidenten eine Fotografie Alfred Hitlers – als Folge des Münchner Abkommens. Schon mit 10 Jahren trat Robert der Organisation Jungvolk bei und später der Fliegenden Hitlerjugend, wo er an Gefechtsübungen und Lagern teilnahm. In den letzten Kriegswochen sah Robert mit eigenen Augen, wie ein Zug verwahrloster Gefangener aus Konzentrationslagern durch Neuern zog. Mit der sich nähernden Front kam es auch zur Bombardierung von Neuern, die vierzig Bewohner das Leben kostete. Erst nach dem Krieg erfuhr die Bevölkerung von Neuern von der Hinrichtung der Gefangenen aus den Konzentrationslagern auf dem örtlichen Bahnhof, als die deutschen Bewohner der Stadt die hingerichteten Gefangenen ausgraben, waschen und begraben mussten. Als mit der Verhaftung der Deutschen aus Neuern begonnen wurde, entschied sich Roberts Vater nach Deutschland zu fliehen. Der dreizehnjährige Robert begleitete ihn in der Nacht an die Grenze und brachte ihm später heimlich Briefe und Nachrichten nach Bayern. Roberts Mutter starb im September 1945 an einer Herzkrankheit und Tschechen beschlagnahmten das Haus. Robert begab sich dann allein nach Deutschland zum Vater. In den folgenden Monaten überquerte er wiederholt die Grenze und brachte kleinere Besitztümer rüber, zuletzt auch seine sechsjährige Schwester. Bis zur Errichtung des Eisernen Vorhangs setzte er seine Grenzübertritte fort, hauptsächlich um Pilze und Heidelbeeren zu sammeln, doch er kannte auch Schmuggler und Schleuser. Der ehemalige Gymnasiast machte am Ende in Deutschland eine Bäckerlehre, widmete sich diesem Gewerbe aber nicht. Er nutzte seine alten Erfahrungen aus der Kindheit als Angehöriger der deutschen Grenzpolizei und bewachte unter anderem die tschechisch-deutsche Grenze in den Zeiten des Eisernen Vorhangs. Seinen Geburtsort Neuern besuchte er erst im Juni 1989, wo er auch den nachrevolutionären Lokalpolitiker Ivan Bečvář kennen lernte und mit dem er bis zu dessen Tod freundschaftliche Beziehungen pflegte. Die Kriegs- oder Nachkriegsereignisse rechneten sie einander nicht an. „Wir waren beide noch Kinder,“ stimmten sie überein.