Christiane Müller

* 1938

  • „Man nimmt ja alles auf mit dem Kinderkopf und –verstand. Ich habe in der Tschechei gelernt, ich sage es jetzt mit meinem Wortschatz, dass alle Deutsche böse Menschen sind. Und in Deutschland bin ich gekommen, da habe ich gelernt: 'Tschechisch? Russisch? Sind alles böse Menschen.' Also oberflächlich betrachtet. Und da habe ich mir als Kind gedacht: 'Warum sagst du das? Du kennst doch gar keine Tschechen. Ich kenne die Tschechen, ich habe tschechische Freunde gehabt, es sind ganz liebe Menschen. Warum sagst du so etwas?' Das habe ich mir gedacht, aber das durfte ich ja gar nicht sagen.“

  • „Mitnehmen? Die ersten, die die Tschechei verlassen haben, die mussten mit 45 Kilo innerhalb von zwölf Stunden am Bahnhof sein. Aber wir durften schon was mitnehmen. Mann musste alles aufschreiben – so etwa zehn Taschentücher, fünf Socken, drei Kleider, ein Hut – alles aufschreiben. Und dann wurde ein Preis errechnet, den musste man halt bezahlen. Dann kam man an die Grenze, da wurde alles ausgepackt und kontrolliert. Und wenn was einem der Grenzer gefallen hat, dann hat er sich das rausgenommen. Meine Mutter hat 8000 Kronen bezahlt für das Gesamte, Manches hat gefehlt, sie durfte aber Vieles mitnehmen, muss ich schon sagen. Ich hatte einen schweren Rucksack, meine Mutter hat immer gesagt: 'Was hast du denn da drinnen, mein Kind? ' Ich hatte meine Lieblingsvase aus Glas, die war schwer, die hatte ich da eingepackt, in den Rucksack. Sentimentalität nennt man das, glaube ich.“

  • „Für mich als Kind war das ein plötzlicher Verlust. Meine Freundinnen im Vorschulalter, oder vielleicht erste Klasse – auf einmal waren sie nicht mehr da. Und wir hatten sieben Katzen! Zu meiner Mutter hat jeder gesagt: 'Gel, du kümmerst dich um unsere Katze? ' Eine Katze gehört ja zum Haus, bleibt im Haus. Wir hatten sieben Katzen, weil die Leute waren weg. Wir haben sie gefuttert. Manche kamen zu uns, manche mussten wir am Haus futtern. Es war sehr schnell (die Aussiedlung) und dann war Stornierung. Wir durften auch bleiben. Es konnte sein, weil wir keine Nazis waren. Vielleicht hatten sie eine Liste, wo es draufstand? Wir konnten bleiben, vielleicht auch wegen des Betriebes. Sie haben gemerkt, wenn sie alle Leute wegschicken nach Deutschland, bleibt das Betrieb stehen.“

  • „Ein Russe hat mich einmal auf Schoss genommen, hat mich gestreichelt und hat geweint und hat gesagt er hat auch Frau und Kind zu Hause. Und ich hatte eine Puppe! Die war gefüllt mit Stroh, das war damals so. Und da hatte meine Mutter den ganzen Schmuck, Uhren, Ohrringe, oder was man für wichtig und wertvoll erachtet hat, reingesteckt. Und zu mir hat sie gesagt: 'Die Puppe darfst du nicht aus der Hand geben, wenn du sie aus der Hand gibst, haben wir nichts zum Essen mehr.' Ich wusste keinen Zusammenhang. Aber der Russe nahm dann auch meine Puppe, die habe ich ihm gleich entrissen. Dann hat sie mir wieder gesagt: 'Na so darfst du das auch nicht machen! ' Also für uns Kinder war es sehr anstrengend.“

  • Full recordings
  • 1

    Pegnitz, SRN, 15.07.2020

    (audio)
    duration: 01:25:22
    media recorded in project The Removed Memory
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Wir durften bleiben, aber wo keine Menschen sind, ist auch keine Heimat

Christiane Müller als junge Frau in Deutschland
Christiane Müller als junge Frau in Deutschland
photo: Pamětník

Christiane Müller, geborene Bittner, wurde am 4. November 1938 in der Familie deutscher Sozialdemokraten in Bergstadt (Horní Město) bei Römerstadt (Rýmařov) geboren. Bergstadt gehörte im Krieg wie das ganze Sudetenland zum Deutschen Reich. Der Vater war Zimmermaler, aber musste im Krieg sein Gewerbe schließen und dienen. 1943 fiel er bei Stalino in der Sowjetunion (heute Donetsk, Ukraine). Zum Kriegsende flohen viele Bergstädter Deutsche vor dem Einmarsch der Roten Armee, im Haus der Bittners waren die sowjetischen Soldaten dagegen untergebracht. Etwas später begannen in der Gemeinde Tschechen und Slowaken aufzutauchen, denen das Eigentum von den Deutschen zugeteilt wurde, die nach und nach aus ihren Häusern ziehen mussten. Die Bittners als damalige Sozialdemokraten und arbeitmäßig Unentbehrliche blieben. Christiane begann in die tschechische Schule zu gehen, hörte erst nur zu und schrieb ab, lernte dann schließlich Tschechisch. 1950 entschied sich aber die Mutter freiwillig mit einem bereitgestellten Transport nach Deutschland zu Verwandten zu ziehen. Das Eigentum, das sie mitnahm, musste sie dem tschechoslowakischen Staat abkaufen. Nach einem Aufenthalt im Sammellager Furth im Wald ließen sich Mutter und Tochter schließlich in Bayern nieder, wo Christiane Müller bis heute lebt. Bis heute mag sie die tschechische Sprache und Hymne.